Justice you get in heaven
- Urs Egli
- Nov 6
- 5 min read
Updated: 7 days ago
November 2025
In Gerichtsverfahren suchen Klienten Gerechtigkeit. Sie gehen zu Anwältinnen und Anwälten, damit diese dabei helfen. So lautet das gängige Narrativ.
In Erinnerung geblieben ist mir der englische Richter, der einer Partei Folgendes sagte, als diese sich über ein Urteil beklagte: "Justice you will get in heaven. From us you get a decision." Was meinte er damit?
Eine Antwort gibt Niklas Luhmann in "Legitimation durch Verfahren". Darin untersuchte der Rechtssoziologe das Wesen und die Wirkung von Gerichtsverfahren.

Gerichtsverfahren isolieren Konflikte
In Gerichtsverfahren geht es, so die These von Luhmann, soziologisch gesehen nicht um die Suche nach Wahrheit. Die wirkliche Aufgabe von Verfahren sei es, die Konfliktparteien in ein System einzubinden, das den Konflikt in einem institutionalisierten Rahmen abwickelt. Dadurch wird der Konflikt isoliert und die Gesellschaft wird gegenüber den Konfliktfolgen immunisiert. Sonst würde sich der Konflikt über das eigentliche Konfliktthema hinaus auf weitere Lebensbereiche ausdehnen und könnte unkontrollierbar werden.
Die Verfahrenswirklichkeit bildet nicht das tatsächlich Geschehene ab
In Verfahren konstruieren die Parteien gemeinsam eine Verfahrensgeschichte. Diese Verfahrensgeschichte ist die individuelle Darstellung ihres eigenen Konfliktes. Die Verfahrensgeschichte bildet nicht das ab, was wirklich geschehen ist. Es ist vielmehr eine abstrahierte, in der Komplexität stark reduzierte Darstellung. Bei der Schilderung ihres Konfliktes haben sich die Parteien an strenge Vorgaben zu halten. Durch das Prozessrecht werden Themen und Personen ausgegrenzt oder es werden Fakten für irrelevant erklärt. Die Regeln zur Abfolge der Parteivorträge, zu den Noven und zu den Beweisanträgen setzen Schranken. Fristen beschleunigen oder verzögern das Verfahren. Durch das Verfahren wird die Vergangenheit in einem gemeinsamen Bild fixiert.
Parteien leisten in Gerichtsverfahren "zeremonielle" Arbeit
Im Verfahren übernehmen die Parteien Rollen. Sie sind nicht mehr "der Ehemann" oder "die Geschäftspartnerin", sondern nur noch Kläger oder Beklagte. Auch Richterinnen haben eine Rolle. Sie werden nicht als Privatpersonen, sondern nur in ihrer spezifischen Aufgabe als Richterin wahrgenommen. Die Privatperson der Richterin wird ausgeblendet.
Indem sich die Parteien auf das Verfahren einlassen und die ihnen zugeschriebenen Rollen annehmen, leisten sie "zeremonielle Arbeit". Durch die Verstrickung in ein Rollenspiel lässt sich die Persönlichkeit einfangen, umbilden und zur Hinnahme von Entscheidungen motivieren. So tragen die Parteien ihren Konflikt in der erlaubten Form des Prozesses aus.
Interessenkonflikte werden in einen Konflikt über Tat- und Rechtsfragen umgemünzt
Dabei wird der Interessenkonflikt, um den es eigentlich geht, in einen Konflikt über Tat- und Rechtsfragen verwandelt. Der Konflikt wird dadurch in seiner Komplexität reduziert und auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Das ist eine Voraussetzung, damit ein Richter eine Entscheidung zum Konflikt nach einem "Tatsachen-Rechtsfolgen" Schema fällen kann.
Die Mediation notabene geht den umgekehrten Weg, zurück von den Positionen in den Tat- und Rechtsfragen zu den Interessen. Aber in einer Mediation muss auch keine Entscheidung gefällt werden.
Das Verfahren absorbiert Ungewissheit
Was die Zukunft betrifft, so wird Ungewissheit absorbiert, indem immer weniger Handlungsalternativen bestehen. Am Ende des Verfahrens steht unweigerlich der Entscheid, der den Konflikt zwar nicht löst, aber ihm wenigstens ein Ende bereitet. Eben: "From us you get a decision."
Das Verfahren, nicht die materielle Gerechtigkeit, erzielt die gewünschte Wirkung
Dass die Entscheidungsempfänger den Entscheid akzeptieren, mithin also einen Lernprozess durchmachen, ist nicht erforderlich. Wie wenig die materielle Gerechtigkeit zur Akzeptanz beiträgt, zeigt folgende Überlegung: In einem Verfahren mit zwei Beteiligten wird mindestens eine der Parteien unterliegen und deshalb mit der Entscheidung in materieller Hinsicht unzufrieden sein. Vielleicht sogar beide. Die materielle Gerechtigkeit kann also nicht das massgebende Kriterium dafür sein, ob ein Urteil akzeptiert wird oder nicht. Es kommt - so Luhmann - allein darauf an, dass sich die Parteien auf das Verfahren einlassen, dass sie die ihnen zugeschriebenen Rollen übernehmen, sich im Rollenspiel verstricken und am Schluss gar nicht anders können, als den Entscheid als Faktum zu akzeptieren. Tun sie dies nicht, so gelten sie als Querulanten, für deren Probleme sich niemand mehr wirklich interessiert.
Und wo bleiben die Wahrheit, die Gerechtigkeit und die Konsistenz der Entscheide? Luhmann sieht darin durchaus Faktoren, welche eine legitimierende Wirkung haben können, aber eben nur unterstützend. Das Wesentliche ist für ihn die Magie des Verfahrens.
Unsicherheit als treibender Faktor
Warum lassen sich Entscheidungsempfänger überhaupt auf ein Verfahren ein? Der treibende Faktor ist ihr Bedürfnis, mit dem Verfahren Unsicherheit zu reduzieren. Durch Konflikte entstehen labile Situationen, welche sich in die eine oder andere Richtung entwickeln können. Unsicherheit ist schädlich. Das Individuum verliert bei der Abwägung seiner Handlungsalternativen die Orientierung. Das Verfahren verspricht nun, diese Unsicherheit zu reduzieren, indem es einen Entscheid in Aussicht stellt. Keine Gerechtigkeit, aber immerhin einen Entscheid. Solange noch Unsicherheit besteht, die reduziert werden will, machen die Entscheidungsempfänger bei dieser "zeremoniellen Arbeit" mit. Sie lassen sich Schritt für Schritt auf das Verfahren ein, arbeiten an der gemeinsamen Verfahrensgeschichte mit und binden sich dadurch. Jeder kann noch hoffen, dass die Würfel auf seine Seite fallen.
Autonomie des Verfahrens
Diese Wirkung können Verfahren nur entfalten, wenn die Beteiligten an die Autonomie des Verfahrens glauben. Autonomie bedeutet, dass nur das Verfahren zählt. Es muss frei sein von äusseren Einflüssen. Nur so können die Beteiligten daran glauben und hoffen, dass der Entscheid auch zu ihren Gunsten ausfallen kann.
Das wird durch zwei wesentliche Regeln erreicht. Erstens durch die Trennung von Regeldefinition (Gesetzgebung) und Rechtsanwendung (Gerichtsverfahren) Und zweitens durch das Ausschalten von Faktoren, welche die Autonomie stören, wie z.B. Vetternwirtschaft oder Bestechung.
Deshalb ist die richterliche Unabhängigkeit so wichtig. Richterinnen und Richter sind in ihrem Entscheidungsspielraum eingeschränkt. Es ist nicht ihr Auftrag, die beste Lösung zu finden. Sie müssen nur nach einem Konditionalprogramm eine "wenn-dann" Entscheidung treffen. Die sozialen Folgen ihrer Entscheidung müssen sie nicht verantworten. Richter, welche die gesamte Verantwortung für ihre Entscheidung tragen müssten, könnten kein unparteilichen Richter mehr sein. Wenn sie entscheiden müssten, welches die gute und welches die schlechte Lösung ist, würden sie selbst Partei werden.
Take Home Messages für Richter und Anwälte
Verfahren haben eine rituelle Komponente. Räume, Kleidung und Verhalten sind wichtig. Richterinnen und Anwälte übernehmen Rollen. Sie sollten sie spielen und zwar mit Engagement. Wir sind nicht als Privatpersonen unterwegs im Gerichtssaal, wir machen unseren Job. Das bedeutet nicht, dass wir unnahbar oder besonders hart sein müssen. Aber eine gewisse Ernsthaftigkeit ist angemessen. Besuche in Gerichtssälen anderer Kulturen (z.B. am Old Bailey in London) helfen sehr, den rituellen Charakter von Verfahren zu erkennen. Lasst die Magie des Verfahrens wirken!
Helft den Parteien, ihre Verfahrensgeschichte zu schreiben. Anwältinnen und Anwälte tun dies, indem sie die Geschichte ihrer Klienten aufnehmen und in Rechtsschriften festhalten. Tun Sie das in einer möglichst verständlichen Sprache und so kohärent und spannend wie möglich. Rechtschriften richten sich auch an den eigenen Klienten. Sie sollte sich darin wiedererkennen.
Richter steuern das Verfahren, welches die Verfahrensgeschichten der beiden Parteien abgleicht, in der Komplexität reduziert und auf die Entscheidungsfrage reduziert. Dadurch werden Themen, die den Parteien vielleicht wichtig sind, ausgeblendet. Seien Sie sich dessen bewusst und tun Sie dies achtsam, in kleinen Stücken, mit einer Salami-Taktik gewissermassen. Und lassen Sie erkennen, dass Sie hören, was den Parteien wichtig ist. Auch wenn es den Entscheid nicht beeinflusst. Gehört werden hat eine heilende Wirkung. Überhört zu werden, bewirkt das Gegenteil.
Die Unsicherheit über den Ausgang muss bis zum Schluss bestehen bleiben, wie in einem guten Krimi. Wenn die Parteien das Ende erahnen können, machen sie nicht mehr mit. Das ist das grosse Problem bei gerichtlichen Vergleichsverhandlungen. Ohne richterliche Äusserung zur Sache selbst geht es nicht weiter und eine zu klare Ausgangsprognose ist ein Spoiler.
Weiterführende Lektüre
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt 1983
Urs Egli, Legitimation durch Verfahren – Der Weg ist das Ziel: Niklas Luhmanns These zur legitimierenden Wirkung von Gerichtsverfahren, Jusletter 23. März 2009
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